Warum die Reifenindustrie beim Recycling Pionierarbeit leistet – und was wir daraus für andere Elastomer-Produkte lernen können erläutert Stephan Rau, Kreislaufwirtschaftsexperte und Technischer Geschäftsführer des Wirtschaftsverbands der deutschen Kautschukindustrie e.V. (wdk).
Die deutsche Gummi- und Reifenindustrie befindet sich in einem grundlegenden Wandel: Statt linearem Verbrauch entwickelt sie zunehmend zirkuläre Modelle. Dabei zeigt sich: Altreifen bieten enormes Potenzial für nachhaltige Wertschöpfung. Doch während Reifen inzwischen ein gut strukturierter Stoffstrom sind, bleibt das Recycling technischer Elastomer-Erzeugnisse (TEE) eine offene Baustelle.
Zwei Stoffströme, zwei Herausforderungen
„In der Gummiindustrie reden wir im Wesentlichen über zwei große Stoffströme“, erklärt Stephan Rau vom Wirtschaftsverband der deutschen Kautschukindustrie (wdk). Zum einen über Altreifen, zum anderen über technische Elastomer-Erzeugnisse, die von Dichtungen über Schläuche bis zu Fördergurten reichen. Beide Bereiche sind mengenmäßig vergleichbar – doch während das Reifenrecycling durch standardisierte Rücknahmesysteme, etablierte Verwerterstrukturen und ein hohes öffentliches Bewusstsein geprägt ist, fehlt es bei TEE an Strukturen, Mengenbündelung und technischer Durchdringung.
Die Kreislaufkette der Reifen

Altreifen durchlaufen in Deutschland zunehmend geschlossene Stoffkreisläufe. Runderneuerung, stoffliche Verwertung und energetische Nutzung sind hier eng verzahnt. Besonders im Nutzfahrzeugbereich ist die Runderneuerung etabliert. Ist der Reifen endgültig verschlissen, folgen je nach Qualität und Verfügbarkeit Verfahren wie Pyrolyse, Devulkanisation oder mechanische Granulierung.
Gerade Letztere hat sich bewährt: Aus dem Reifengranulat entstehen neue Produkte mit hohem Anwendungswert – von Trittschalldämmungen über Sportplatzbeläge bis hin zu zertifizierten Stallmatten. Diese Vielfalt dokumentiert die Initiative New Life, die ein „Ideen-ABC“ mit Anwendungen von A wie Antirutschmatte bis Z wie Zaunpfosten aufführt. Ein prominentes Beispiel: die Laufbahn im Berliner Olympiastadion, die aus recyceltem Reifengranulat gefertigt wurde.
AZuR: Netzwerk statt Einzelinitiative
Ein Meilenstein für die Branche war die Gründung der Allianz Zukunft Reifen (AZuR) im Jahr 2020. Entstanden aus dem Zusammenschluss von Reifensammlern, Verwertern, Wissenschaft und Industrie, fungiert AZuR als offenes Netzwerk und Thinktank für zirkuläre Wertschöpfung im Reifenbereich. Über 90 Partner engagieren sich heute in dem Projekt, das nicht nur Best Practices verbreitet, sondern auch Forschungsprojekte initiiert und politische Prozesse begleitet.
TEE-Recycling: Zwischen Fragmentierung und Innovationspotenzial
Ganz anders stellt sich die Situation im Bereich technischer Gummiwaren dar. Die große Vielfalt an Produkten, Materialien und Additiven sowie die häufige Kontamination durch Medienkontakt erschweren standardisierte Rücknahmesysteme. Hinzu kommt, dass viele Elastomerprodukte, wie bsp. Hochleistungsdichtungen, eine außerordentlich hohe Lebensdauer haben. Während sich große Stoffströme – etwa Fördergurte im Bergbau – technisch erschließen lassen, bleibt die Masse der TEE bislang im grauen Bereich: unsortiert, oft im Restmüll, meist in der thermischen Verwertung.
Ein möglicher Hebel: Mengenbündelung und Querschnitts-Initiativen wie die Circular Rubber Platform in den Niederlanden. Dort wird – ähnlich wie bei AZuR – versucht, ein Netzwerk für Elastomer-Recycling jenseits des Reifenbereichs aufzubauen. Ein Beispiel aus der aktuellen Arbeit des wdk: Derzeit arbeitet der Verband an der Erstellung einer Leitlinie zum Recycling vom Mehrkomponentenverbunden mit Thermoplastischen Elastomeren.
Rezyklateinsatz: Sicherheit und Akzeptanz
Einen häufigen Bremsklotz stellen Unsicherheiten hinsichtlich der Schadstoffmigration dar. Polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe (PAK), die früher in Weichmacherölen enthalten waren, gelten als kritisch, dürfen aber seit 2010 hier nicht mehr verwendet werden. Technische Ruße, die in Reifen verwendet werden, enthalten zwar PAK, die allerdings in der Elastomermatrix gebunden sind und so ein ungehindertes Entweichen verhindert. Aus historischen Gründen bestehen jedoch in Teilen der Politik und Öffentlichkeit weiterhin Vorbehalte gegenüber Gummirezyklaten.
Seit mehr als ein Jahrzehnt setzt der wdk und in der Folge auch AZuR auf einen Migrationsansatz statt reiner Stoffanalytik: Entscheidend sei nicht, was im Material enthalten sei, sondern was unter realen Bedingungen tatsächlich freigesetzt werde. Studien zeigen: Die Migration aus Gummigranulaten liegt meist im Nanogrammbereich – vergleichbar mit alltäglichen Lebensmitteln wie Bananenchips oder Salami. Dennoch dominiert vielerorts ein rein vorsorgeorientierter Ansatz, der Risiken nicht abwägt, sondern durch generelle Verbote neutralisieren will – eine Herangehensweise, die aus Sicht der Kreislaufwirtschaft kontraproduktiv ist.
Bildung, Kommunikation, Vertrauen
Rau betont: „Kreislaufwirtschaft funktioniert nur mit Vertrauen – in die Prozesse, die Produkte und die handelnden Akteure.“ Daher setzt AZuR und die Initiative NEW LIFE auf Aufklärung – etwa über Unterrichtsmaterialien und Haptikboxen für Berufs- und Fachschulen. Auch die Ansprache kommunaler Entscheider*innen spielt eine zentrale Rolle: Nur wenn Recyclingprodukte als leistungsfähig und sicher anerkannt sind, können sie im Wettbewerb mit Primärmaterialien bestehen.
Reifen als Role Model für Circular Economy
Das Beispiel Reifen zeigt, wie zirkuläre Modelle in der Praxis funktionieren können – technologisch, organisatorisch und kommunikativ. Der Schlüssel liegt in verlässlichen Stoffströmen, belastbaren Qualitätsstandards und einem aktiven Wissens- und Vertrauensaufbau. Die Herausforderung für die kommenden Jahre: Diese Strukturen auf andere Gummi- und Elastomerprodukte zu übertragen – mit System, Skalierung und smarter Regulierung.
Bild ganz oben: : Stephan Rau ist Technischer Geschäftsführer des Wirtschaftsverbands der deutschen Kautschukindustrie (wdk). Foto: Circular Technology