Nach Auswertung von 2.800 Klimaszenarien gehen die meisten von erheblichem Anstieg der Atomenergie aus. Die zugrundeliegenden Annahmen entsprechen aber nicht tatsächlicher langjähriger Entwicklung. Der Widerspruch wird als Atomenergie-Szenarien-Paradox bezeichnet. Das DIW sieht die Gefahr besteht, dass Geld in Kerntechnik zu investiert wird, obwohl andere Technologien rentabler und risikoärmer sind.

Schon seit Jahrzehnten gehen weltweite Szenarien von einem stark überzogenen Anstieg von Atomkraftkapazitäten aus. 2.800 Klimaszenarien, die vom Weltklimarat (IPCC) erfasst wurden, haben Forschende des Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) in einer aktuellen Studie unter die Lupe genommen. Im Durchschnitt gehen diese Szenarien davon aus, dass sich die Atomenergie von derzeit 3.000 Terawattstunden auf über 6.000 Terawattstunden im Jahr 2050 und auf über 12.000 Terawattstunden im Jahr 2100 erhöht.

„Diese Verdopplung beziehungsweise Vervierfachung der Atomstromproduktion widerspricht den technischen und ökonomischen Realitäten“, sagt Christian von Hirschhausen, Forschungsdirektor der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt im DIW Berlin. Den Widerspruch bezeichnen die Studienautor*innen als Atomenergie-Szenarien-Paradox. Die Gefahr bestehe, dass aufgrund der Klimaszenarien öffentliche und private Gelder in die Kerntechnologie investiert werden, sich aber nicht rentieren. Zwar wird gerade im Zuge der Klimakrise diskutiert, welchen Beitrag Atomenergie zur Reduzierung der CO2-Emissionen und damit zum Klimaschutz leisten kann. Rechnet man auch die Atommüll-Lagerung und den Rückbau alter Kraftwerke hinzu, ist Atomenergie eine der teuersten Energiequellen. Innovationen in der Hochrisikotechnologie, wie Plutoniumreaktoren, lassen zudem weiter auf sich warten. „Atomenergie ist kein Klimaretter. Andere Technologien sind rentabler und risikoärmer“, sagt Hirschhausen.

Erwarteter Neubauboom von Kernreaktoren ist unrealistisch

Weltweit sind aktuell 415 Kernreaktoren in Betrieb, rund die Hälfte wird aber bis zum Jahr 2030 aus Altersgründen vom Netz gehen müssen. Folgt man einer Steigerung der Zubaurate um 59 Prozent, wie etwa im optimistischen Szenario des IPCC-Sonderberichts zum 1,5-Grad-Ziel, müssten in den nächsten zehn Jahren mehr Kernkraftwerke gebaut werden, als aktuell überhaupt am Netz sind. „Dieser erwartete Neubauboom ist unrealistisch“, so Co-Autor Jens Weibezahn. „Derzeit wird global lediglich an etwa 50 Neubauprojekten gearbeitet, von denen 31 bereits verspätet sind – teilweise erheblich.“

Klimaszenarien kritisch hinterfragen

Den Widerspruch zwischen zu optimistischen Szenarien und der Realität – dem Atomenergie-Szenarien-Paradox – erklären die Wissenschaftler*innen mit politökonomischen, institutionellen und geopolitischen Faktoren. Insbesondere die enge Verbindung zwischen militärischer und kommerzieller Nutzung von Atomenergie sowie dem Interesse der Atomwirtschaft und den dazu gehörigen Organisationen an der Selbsterhaltung spielen eine Rolle. Es gilt daher, Klimaszenarien kritisch zu hinterfragen, insbesondere ihre Annahmen und Modelllogik. Sonst könnten Politik und Wirtschaft aus ihnen falsche Maßnahmen ableiten. „Statt auf Atomenergie sollten Politik und Wirtschaft auf erneuerbare Energien setzen, die nicht nur strukturelle Kostenvorteile haben, sondern auch ungefährlich sind“, sagt Claudia Kemfert, Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt im DIW Berlin. „Die Zukunft liegt in den Erneuerbaren, nur mit ihnen kann die Transformation der Energiewirtschaft gelingen.“

Bild oben: Der Ausbau von Atomreaktoren und damit ihre Bedeutung für die Stromerzeugung der Zukunft werden massiv überschätzt. Grafik: DIW

Von fil