Schnelle politische Entscheidungen für Klimaschutz und Energiesicherheit
Um Deutschland aus der strukturellen Abhängigkeit von fossilen Energieimporten herauszuführen, braucht es Agora zufolge schnelle energiepolitische Entscheidungen. „Erneuerbaren Energien und Energieeffizienz kommt mehr denn je eine strategische, sicherheitspolitische Bedeutung zu“, sagt Simon Müller. Der Zubau von 44,5 Gigawatt Windkraftanlagen, davon 39 Gigawatt Windkraftanlagen an Land sowie 84 Gigawatt Solaranlagen sind entscheidend, um im Stromsystem innerhalb von fünf Jahren 50 Terawattstunden Erdgas zu ersetzen. In der Fernwärmeerzeugung kann eine Kombination von Wärmepumpen, Elektrodenkesseln, Solar- und Geothermie, Nutzung von Abwärme und grünem Wasserstoff Erdgas im Umfang von 27 Terawattstunden einsparen. Diese Maßnahmen ermöglichen somit Erdgaseinsparungen in Höhe von 77 Terawattstunden im Jahr 2027 im Vergleich zu 2021.
Der Großteil des Erdgases wird in Gebäuden verbraucht. Um hier die Abhängigkeit schnell zu reduzieren, sind eine geringfügige Steigerung der Sanierungsrate von 1,2 Prozent im Jahr 2021 auf 1,6 Prozent im Jahr 2027 sowie gut drei Millionen neu installierte Wärmepumpen nötig. „Bei der Sanierungsoffensive müssen wir insbesondere die ineffizienten Ein- und Zweifamilienhäuser anpacken, um schnell substanzielle Einspareffekte zu erzielen“, sagt Müller. „Der Einbau neuer Öl- und Gasheizungen muss unverzüglich beendet werden. Klare rechtliche Vorgaben müssen mit einer sozial gerechten Förderung kombiniert werden.“ Hierdurch lassen sich im Gebäudebereich innerhalb von fünf Jahren 55 Terawattstunden Erdgas einsparen.
Die hohen Gaspreise rücken Effizienzmaßnahmen und Elektrifizierung für die Industrie in den Fokus: Der Umstieg auf Wärmepumpen oder Elektrodenkessel für die Niedertemperatur-Prozesswärme wird hierdurch wirtschaftlicher. „Mit verbesserter Energie- und Materialeffizienz kann sich die Industrie gegen fossile Energiepreiskrisen wappnen“, sagt der Agora Deutschlandchef. Auch der schnellere Hochlauf von grünem Wasserstoff ist zentral, um die Abhängigkeit der Industrie von Erdgas nachhaltig zu senken. Insgesamt liegen hier bis 2027 Erdgaseinsparpotenziale von 69 Terawattstunden.
Kurzfristige Einsparpotenziale für den Krisenfall
Für den Fall von akut ausbleibenden Gaslieferungen aus Russland hat Agora Energiewende die kurzfristigen Einsparpotenziale für zwei Szenarien berechnet: Eine erste Stufe berücksichtigt Einsparoptionen, die moderate bis starke Einschränkungen und Produktionsrückgänge erfordern. Hiermit können gut die Hälfte (158 Terawattstunden) des auf Deutschland bezogenen, jährlichen Einsparbedarfs bei einem Ausfall russischer Importe erzielt werden: Dazu gehören die Absenkung der Raumtemperatur in allen Gebäuden um 0,5°C bis 1°C in Kombination mit kleineren Effizienzmaßnahmen wie dem Abdichten von Fenstern. „Wir brauchen jetzt eine breit angelegte Informationskampagne zum Energiesparen und für Effizienz“, sagt Müller. „Die Bundesregierung muss soziale Härten infolge steigender Energiekosten abfedern. Vor allem die einkommensschwachen Haushalte brauchen zudem finanzielle Unterstützung für Energieeffizienzmaßnahmen.“
Zu den Sofortmaßnahmen gehört auch der Ersatz von Gaskraftwerken zur Strom- und Wärmeerzeugung etwa durch zusätzliche Erneuerbare Energien oder einen Rückgriff auf Kohle beziehungsweise Öl. Bei Industrieanlagen wäre der Umstieg auf andere Brennstoffe in der Prozesswärme im Umfang von 15 Prozent erforderlich. Zudem würde die stoffliche Verwendung von Erdgas in der Chemieindustrie halbiert. Außerdem wären schnell umsetzbare Effizienzeinsparungen, wie etwa Abwärmenutzung nötig. „Zur Krisenbewältigung braucht es sowohl eine Industrie, die ihre Handlungsoptionen voll ausschöpft, als auch – ähnlich wie in der Corona-Pandemie – einen staatlichen Schutzschirm für die Unternehmen“, sagt Müller. Dazu gehörten Kurzarbeit und die Deckung von Betriebskosten im Fall von Produktionsausfällen.
Die zweite Stufe erfordert noch größere Anstrengungen: Hierzu zählen eine Absenkung der Raumtemperatur um 1°C bis 1,5°C und der Umstieg auf andere Brennstoffe in der Prozesswärme im Umfang von 33 Prozent. Hiermit könnte Deutschland rund 90 Prozent des nötigen Einsparvolumens beziehungsweise 261 Terawattstunden erreichen. Die stoffliche Verwendung von Erdgas in der Chemieindustrie würde zudem nur noch ein Viertel gegenüber dem Niveau von 2021 betragen. Die Produktion würde damit zum Teil aufrechterhalten werden, um Unterbrechungen von Lieferketten durch Kaskadeneffekte entgegenzuwirken.
Gasverbrauch in Deutschland
Deutschland hat im Jahr 2021 insgesamt 912 Terawattstunden Erdgas verbraucht, von denen rund 90 Prozent aus Importen stammten. Russland deckte knapp die Hälfte dieser Importe ab. Die Studie „Energiesicherheit und Klimaschutz vereinen – Maßnahmen für den Weg aus der fossilen Energiekrise“ wurde von Agora Energiewende in Zusammenarbeit mit der Prognos AG und dem Wuppertal Institut erstellt. Die 32-seitige Publikation legt Zahlen für eine Reduktion des Gasverbrauchs in der Energiewirtschaft, im Gebäudebereich und in der Industrie sowie Optionen für alternative Gasimporte vor. Sie steht zum kostenlosen Download zur Verfügung.
Bild oben: Der Ausstieg aus dem Verbrauch fossiler Energie beginnt mit Einsaprungen. Mittelfristig könnte der Bedarf so um ein Viertel sinken. Foto: Pixabay/TimHill