Die Archäologin Flavia Venditti zeigt, dass Menschen schon vor 400.000 Jahren recycelten

Der Tübinger Förderpreis für Ältere Urgeschichte und Quartärökologie geht in diesem Jahr an Dr. Flavia Venditti von der Sapienza Universität in Rom. Die Italienerin wird für ihre Dissertation „The recycling phenomenon during the Lower Palaeolithic: the case study of Qesem Cave (Israel)“ ausgezeichnet. Darin untersucht sie die gezielte Herstellung kleiner Schneidgeräte aus unbrauchbar gewordenen größeren Geräten und deren vielfältige Verwendung vor 400.000 Jahren.

Recycling – eine Erfindung der Steinzeit

Recycling, also die Wiederverwertung von Abfall, ist keineswegs eine Erfindung des Industriezeitalters. Sowohl archäologische als auch historische Aufzeichnungen zeigen, dass es bereits in frühen Gesellschaften und Jäger- und Sammlerpopulationen gängige Praxis war. In den altpaläolithischen Schichten der Qesem-Höhle in Israel kann gezieltes Recycling bereits für den Zeitraum 420.000 bis 200.000 Jahre vor heute durchgehend nachgewiesen werden: Steingeräte, die in ihrer ursprünglichen Funktion nicht mehr nutzbar waren, wurden nicht weggeworfen, sondern dienten als Rohmaterial für die Fertigung kleiner, sehr scharfer Werkzeuge.

Archäologen betrachteten diese in ihrer Form nicht besonders markanten Stücke lange Zeit als Notlösungen ‒ geschuldet einem Mangel an geeignetem Rohmaterial zur Herstellung ausgefeilter Werkzeuge. Die Arbeit von Flavia Venditti zeigt nun, dass die kleinen Abschläge ein gängiger und bedeutender Bestandteil des altsteinzeitlichen Werkzeugkastens in manchen Fundstellen waren.

Gezielte und geordnete Wiederverwendung

Unterschiedliche Gebrauchsspuren weisen auf die Verwendung der Recyclingprodukte hin. Für die Qesem-Höhle konnte die Preisträgerin die Bearbeitung vor allem von Fleisch, Häuten und Knochen beim Zerlegen von Tieren, aber auch von pflanzlichen Materialien wie Knollen belegen. Durch die besonders günstigen Erhaltungsbedingungen der Höhle blieben zudem Rückstände der bearbeiteten Materialien konserviert. Mithilfe mikroskopischer und chemischer Analysen, die im „Laboratory of Technological and Functional Analyses of Prehistoric Artefacts“ unter Leitung von Professorin Cristina Lemorini (Sapienza Universität Rom) durchgeführt wurden, konnten Überreste von Knochen, fleischlichem Gewebe und Fett nachgewiesen werden. In Experimenten eigneten sich die kleinen scharfen Geräte besonders zum Enthäuten von Jagdbeute und zum Zerschneiden der gesäuberten Häute. Die Untersuchung der Verteilung der unscheinbaren Artefakte in der Fundstelle weist auf eine deutliche räumliche Gliederung der Aktivitäten in unterschiedliche Bereiche der Höhle hin.

„Flavia Venditti hat mit ihrem breiten Repertoire von Untersuchungsansätzen deutlich gemacht, wie viel bewusstes Handeln schon unseren Vorfahren vor 400.000 Jahren zu eigen war“, sagt die Archäologin PD Dr. Miriam Noël Haidle, Laudatorin und wissenschaftliche Koordinatorin der Forschungsstelle „The Role of Culture in Early Expansions of Humans“ der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. „Ihre Arbeit ist richtungweisend für ein besseres Verständnis einer zielgerichteten Ressourcennutzung in der Altsteinzeit, und es wird spannend, wie tief in der Vergangenheit sich Ähnliches mit ihren Methoden nachweisen lassen wird.“

Flavia Venditti hat an der Sapienza Universität in Rom Archäologie studiert und spezialisierte sich danach mit einem Master Course auf das Thema „Kulturerbe“. Dort schloss sie ihre Promotion mit Auszeichnung ab. Sie arbeitet heute an der Universität von Tel Aviv in Israel mit Professor Ran Barkai an der Fortsetzung des Themas ihrer Doktorarbeit an Werkzeugen der noch älteren Freilandfundstelle Revadim. Der Förderpreis wird am Donnerstag, 6. Februar, um 11 Uhr im Fürstenzimmer auf Schloss Hohentübingen (Burgsteige 11) verliehen. 

Von fil

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