Die Bauindustrie zählt in Europa zu den größten Abfallproduzenten und ist für rund zehn Prozent der CO2-Emissionen verantwortlich. Ein internationales Konsortium will dies durch innovative Circular-Economy-Lösungen ändern. Die Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung (BAM) bringt in „Reincarnate“ ihre Expertise zum Recycling von Baustoffen ein.

Die durchschnittliche Lebensdauer eines Gebäudes in Europa beträgt knapp 40 Jahre, dann wird es abgerissen. Der Grund ist oft so genannte funktionelle Überalterung: Soll ein Gebäude oder auch nur ein Teil davon einer Neu- oder Umnutzung zugeführt werden, fehlen für die Zulassung die erforderlichen Informationen zur ursprünglichen Bauweise. So fällt die Entscheidung zumeist zugunsten eines Abrisses und Komplettneubaus.

Bis zu ein Drittel des Mülls sind Bauabfälle

Aus dieser Praxis resultiert eine große Menge an Bau- und Abbruchabfällen, die 25-30 Prozent des gesamten Abfalls in Europa ausmachen. Zwar erscheint die Recyclingrate in diesem Sektor mit 75 Prozent auf den ersten Blick hoch. Doch die meisten Bauabfälle werden im Straßenbau eingesetzt und sind für die Kreislaufwirtschaft nicht mehr nutzbar. Wertvolle Bauteile wie Gipskartonplatten, Fenster und Fassadenelemente enden gewöhnlich auf Deponien. Das europäische Großprojekt „Reincarnate“, finanziert vom EU-Forschungs- und Innovationsprogramm Horizon Europe, hat sich zum Ziel gesetzt, diesen wenig nachhaltigen Umgang mit Ressourcen zu ändern. Zusammengeschlossen haben sich in „Reincarnate“ 16 multidisziplinäre Organisationen aus acht Ländern, darunter Industrieunternehmen, Universitäten, gemeinnützige Organisationen und Forschungsinstitute wie die Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung (BAM).

Kreislaufwirtschaft verankern

„Wir wollen die Idee der Kreislaufwirtschaft in der europäischen Bauindustrie verankern und durch innovative Lösungen den Lebenszyklus von Gebäuden, Bauprodukten und Materialien signifikant verlängern. Dadurch ließen sich langfristig Bauabfälle um 80 Prozent und der CO2-Fußabdruck des Bausektors um 70 Prozent reduzieren“, erklärt Sabine Kruschwitz, an der BAM Expertin für Materialcharakterisierung und -informatik für die Nachhaltigkeit im Bauwesen und zugleich Juniorprofessorin an der Technischen Universität Berlin, die ihren dortigen Kollegen Prof. Timo Hartmann bei der Koordination des Forschungsprojekts unterstützt.

„Reincarnate“ wird in den kommenden vier Jahren auf einer digitalen Plattform zehn innovative Lösungsansätze präsentieren und zugleich an konkreten Beispielen ihre Wirksamkeit erproben. So sollen etwa bei der Bewertung des Wiederverwendungspotenzials von Gebäuden und Baumaterialien, die heute in der Regel noch manuell erfolgt, digitale Inspektionswerkzeuge, Robotik und Automatisierung zum Einsatz kommen. Das Recyclingpotenzial von Baustoffen soll in Datenbanken erfasst und mit Planungswerkzeugen von Architekt*innen und Ingenieur*innen verknüpft werden, so dass es bereits beim Entwurf berücksichtigt werden kann. Auch sollen beim Bauen langfristige Stadtentwicklungsprognosen einbezogen werden, die helfen können, Fehlplanungen zu vermeiden.

BAM will automatisierte Prüfverfahre entwickeln

Die BAM bringt in „Reincarnate“ ihre Expertise zur Bewertung von rezyklierten Baumaterialien ein, die sich auf datengesteuerte Modellierungsansätze und maschinelles Lernen stützt. Darüber hinaus wollen Sabine Kruschwitz und ihr Team automatisierbare Prüfverfahren entwickeln, mit denen der Zustand von leicht wiederverwertbaren Gebäudeteilen wie etwa Gipstrennwänden beurteilt werden kann. Die Informationen sollen ebenfalls in Datenbanken für Akteure im Bauwesen nutzbar gemacht werden. „Reincarnate ist ein gesellschaftlich und klimapolitisch hochrelevantes Projekt, das einen bedeutenden Impuls für mehr Nachhaltigkeit im europäischen Bausektor geben kann“, so Sabine Kruschwitz.

Ganz konkret erprobt werden die Lösungsansätze von „Reincarnate“ u.a. bei der Sanierung und Umnutzung des Flughafens Tempelhof, einem der derzeit größten Bauprojekte in Berlin.

Bild oben: Beim Abbruch von Gebäuden – hier in Amsterdam – könnten erhebliche Mengen wertvoller Rohstoffe gewonnen werden. Foto: Unsplash/Fons Heijnsbroek

Von fil