Dr. Michael Scriba zählt zu den renommierten Experten im Bereich des Kunststoffrecycling in Theorie und Praxis und berät Mitglieder der Kunststoffwertschöpfungskette auf allen Ebenen in Sachen Kreislaufwirtschaft für Kunststoffe. Im Interview mit Circular Technology gibt Scriba kritische Einblicke in die aktuelle Diskussion über das chemische Recycling von Kunststoffen. Unter anderem merkt er an, dass chemisches Recycling gar keine neue Erfindung ist, sondern auf eine lange Geschichte zurückblickt. Er bemängelt, das chemische Recycling sei im Vergleich zur herkömmlichen Rohstoffgewinnung im Nahen Osten ineffizient und teuer. Allerdings könnten Rezyklate aus chemischem Recycling in Bezug auf Qualität Vorteile bieten. Scriba schlägt vor, die Subsidiarität des chemischen Recyclings gesetzlich festzulegen, um den Fortschritt im mechanischen Recycling zu fördern. Außerdem sollte die chemische Industrie dazu verpflichtet werden, die Effizienz des chemischen Recyclings an das mechanische Recycling anzupassen. Zusätzlich sollten aus seiner Sicht Belieferungsgarantien für mechanisches Recycling eingeführt werden, um sicherzustellen, dass Unternehmen, die in diese Technologie investieren, ausreichend Rohstoffe erhalten.

Circular Technology: Chemisches Recycling wird in letzter Zeit häufig als fehlendes Puzzleteil für eine echte Kreislaufwirtschaft mit Kunststoffen präsentiert. Was ist daran aus Ihrer Sicht problematisch?

Die Anfänge des Chemischen Recycling sind uralt. Foto: Pixabay/Alexey_Hulsov

Dr. Michael Scriba: „Das“ chemische Recycling gibt es gar nicht. Es gibt eine Reihe von Verfahrensvarianten, die zum Ziel haben, Altkunststoffe in chemische Grundstoffe zurückzuverwandeln. Aus diesen können dann in begrenztem Umfang wieder Polymere und Kunststoffe erzeugt werden. Die Verwandlung von Birkenharz und -Rinde zu Birkenpech als Klebstoff und Dichtmittel wird gerne als die Geburt des chemischen Recyclings bezeichnet, weil dabei wohl eine Art Pyrolyse stattfindet. Chemisches Recycling ist also zunächst einmal eine Uralttechnologie. In den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts waren Verwertungskapazitäten knapp. Deswegen wurde in mindestens 20 Fällen in Europa allein ausprobiert, Altkunststoff wieder zu cracken und daraus etwas Brauchbares zu erzeugen. Die dabei auftretenden technischen Probleme und die anfallenden Kosten führten dazu, dass die Verfahren nicht weiterverfolgt wurden bzw. für eine ganze Reihe von Startups in der Insolvenz endeten. Wenn diese Verfahren jetzt, über zwanzig Jahre später, und mit dieser Vorgeschichte, gehypt werden, muß man sich fragen, warum, was hat sich an den technischen Rahmenbedingungen geändert, und welche Effekte die Diskussion hat.

CT: Warum wird das chemische Recycling denn heute „gehypt“?

Dr. Michael Scriba: Weil es das Geschäftsmodell der kunststofferzeugenden Industrie in Europa mit der Kreislaufführung von Kohlenstoffen retten könnte. Leider ist es aber ineffizient und teuer, vor allem im Vergleich mit der Grundstofferzeugung im Nahen Osten. Niemand würde die Produkte aus dem chemischen Recycling freiwillig kaufen, solange er sich im Oman günstiger eindecken kann. Also muß chemisches Recycling als Problemlöser vermarktet werden. Das Problem: Kunststoffe erkaufen ihre unglaublichen Stärken bei (fossiler) Ressourceneffizienz, Vielseitigkeit und Leistungsfähigkeit mit einer unübersehbaren Varianten-, Material- und Zutatenvielfalt. Die Lösung: chemisches Recycling kann das Gemisch in Grenzen wieder auftrennen und Monomere isolieren, die zu neuwaregleichen Kunststoffen verarbeitet werden können. Und hier fängt der Hype an: teilweise sogar mit Unterstützung der Industrie werden jetzt für Lebensmittel- und Kosmetikverpackungen (contact sensitive) Rezyklatgehalte ins Europäische Verpackungs- und Verpackungsabfallgesetz geschrieben. Diese Mengen können aber aus Qualitätsgründen nicht aus dem mechanischen Recycling kommen. Auch die EFSA hat das bisher nicht zugelassen und es ist auch nicht absehbar, dass sich das bis 2030 ändert. Für die chemische Industrie entsteht damit eine Zwangskundschaft für chemisch erzeugte Rezyklate in der Verpackungsindustrie, die jeden Preis zahlen muss, damit sie die Rezyklatgehaltsquoten erreicht. Ob diese ganze Übung dann noch der Umwelt nutzt, wage ich zu bezweifeln.

CT: Was hat sich an den technischen Rahmenbedingungen gegenüber den 90er Jahren geändert?

Scriba: Das müssen Sie die Chemieindustrie fragen. Die technischen Rahmenbedingungen sind aber wohl eher schlechter geworden, weil sich der Varianten- und Materialmix bei Kunststoffen noch weiter vergrößert hat, denken sie nur an die gerade in den letzten Jahren immer populärer gewordenen ökologisch nachteiligen Papier-Kunststoff-Verbunde. Von Energiekosten will ich hier gar nicht reden. Die bekannten Ausbeutedaten aus verschiedenen Ökobilanzuntersuchungen zeigen, dass das chemische Recycling in allen Varianten, die untersucht wurden, noch erheblichen technischen Optimierungsbedarf hat, um wirtschaftlich und ökologisch aufzuholen. Ich halte es für Pfeifen im Walde, sich darauf jetzt schon festzulegen, aber die Industrie muß wissen, was sie tut.

CT: Welche Effekte hat der Hype aus Ihrer Sicht?

Scriba: Es gibt einen weiterverbreiteten Attentismus beim Design for Recyclability (DfR) nach dem Motto: Ich brauche meine Verpackung nicht umzukonstruieren, denn das chemische Recycling kommt mit allem klar. Darunter leidet das mechanische Recycling schon seitdem der Hype begann, ohne dass auch nur eine Tonne chemisch recycelt wurde. DfR kommt also nicht wirklich voran, und das schadet jedem Recyclingverfahren, auch dem chemischen, denn für beide gilt: je sortenreiner der Input, desto besser die Qualität und die Ausbeuten.

Konkurrenz zwischen chemischem und mechanischem Recycling

CT: In einem Statement erklärte Ingmar Bühler von Plastics Europe kürzlich mechanisches Recycling und chemisches Recycling stünden nicht zueinander in Konkurrenz. Wie sehen Sie das?

Scriba: Folgende Aussage ist zunächst einmal richtig und auch unbestritten: chemisches Recycling ist gegenüber dem mechanischen Recycling nicht konkurrenzfähig, weder bei den damit verbundenen Kosten noch bei den Einsparungen an fossilen Rohstoffen. Allein bei der Qualität der Rezyklate wird das chemische Recycling voraussichtlich vorn liegen.

Problematisch ist die in der Fragestellung zitierte Aussage von Herrn Bühler trotzdem, denn beide Verfahren konkurrieren hauptsächlich um denselben Rohstoff: möglichst sortenreine, polyolefinhaltige Abfallströme aus schnelldrehenden Konsumgüterverpackungen. Es ist nicht erkennbar, trotz vielfacher Nachfragen, dass die Protagonisten des chemischen Recyclings es mit ihrer Ankündigung ernst meinen, nur diejenigen Abfallströme verarbeiten zu wollen, die nicht für mechanische Verfahren geeignet seien. Welcher Betreiber bewirbt sich denn um Sortierreste aus MRFs, um die Sinkfraktion aus dem werkstofflichen Recycling, um PO-Flex aus der Gelben Tonne, um hausmüllstämmige Kunststoffe, um Altauto-Kunststoffe, um Kunststoffe aus Elektronikschrott, um vernetzte Kunststoffe oder um z.B. mit Polyamid kontaminierte Kunststoffe? Das aber sind diejenigen Kunststoffarten und -Reste, bei denen werkstoffliches Recycling an seine Grenzen stößt (mit Ausnahme von Produktionsabfällen, für die es viele kleine Spezialisten gibt). Hunderttausende von Tonnen dieser Abfälle sind in vielen europäischen Ländern im Input von Verbrennungsanlagen zu finden oder landen leider immer noch auf Deponien. Dem alten Slogan von Plastics Europe „Zero Plastics to Landfill“ könnten hier doch Taten folgen.

„Die Verfahren sind nicht komplemetär“

CT: Sind die Verfahren denn dann wenigstens komplementär, wie es auch gerne behauptet wird?

Scriba: Auch die Behauptung, beide Verfahren seien komplementär, führt in die Irre. Der Begriff bedeutet im Wortsinn, dass zwei monolithische Materialströme von zwei Verfahrenswegen aufgenommen werden, die sich ergänzen. Das würde unterstellen, dass der Status Quo festgeschrieben wäre bzw. wird. Damit aber wäre die Abfallhierarchie, die eine ständige Entwicklung zum Besseren fordert, und an der sich die Gesetzgebung abarbeitet, hinfällig. Der Grundgedanke der Kreislaufwirtschaft ist aber: Kunststoffe müssen immer besser werden, effektiver im Ressourceneinsatz, besser sammelbar und verwertbar. Das wird dazu führen, dass sie immer weniger für ökologisch minderwertige Verwertungsverfahren, also die energetische Nutzung oder das chemische Recycling, zur Verfügung stehen.  Deswegen sind alle Verfahren im Sinne der Kreislaufwirtschaft subsidiär zueinander und nicht komplementär. Das habe ich aus naheliegenden Gründen bisher von der Chemieindustrie noch nicht gehört oder gelesen. Im Gegenteil, genau deswegen schlägt sie im Positionspapier der deutschen Industrie getrennte Quoten für mechanisches und chemisches Recycling vor.

CT: Welche naheliegenden Gründe meinen Sie?

Scriba: Wenn die chemische Industrie tatsächlich Milliarden in die Hand nehmen soll, um subsidiär gegenüber den anderen Stufen der Abfallhierarchie und zum mechanischen Recycling Kapazitäten aufzubauen, dann kann sie kein Interesse daran haben, ihren Input zu verringern und die Auslastung der Anlagen zu gefährden. Chemisches Recycling bedeutet deswegen zu einem gewissen Grad auch Festschreibung des Status Quo, mindestens, bis die errichteten Anlagen abgeschrieben sind, und wir reden hier nicht von sieben, acht oder zehn Jahren. Daran haben auch die Betreiber von Pyrolyseanlagen ein Interesse. Neue werkstoffliche Kapazitäten für Sortierung und Verwertung, die ökologisch vorteilhaft arbeiten, können auch nicht mehr gebaut werden, denn die Stoffströme werden auf Jahrzehnte vergeben.

CT: Kann chemisches Recycling bei Kosten und Ökologie schon nicht mit mechanischen Verfahren konkurrieren, mit welcher Art von Verbrennung konkurriert es denn? Die kommunale Müllverbrennung und die energetische Nutzung in industriellen Prozessen stehen zur Auswahl.

Scriba: Bisher wird von der Chemieindustrie unterkomplex behauptet, dass chemisches Recycling der „Müllverbrennung“ überlegen sei. Welche Art der Müllverbrennung gemeint ist, das bleibt dabei offen. Die kommunale Hausmüllverbrennung ist energetisch ineffizient, industrielle Prozesse haben in der Regel hohe Energieausbeuten. Die Frage ist also von Bedeutung, denn wenn Stoffströme aus industriellen Verbrennungsprozessen ins chemische Recycling umgelenkt werden sollen, dann muss das der Umwelt nutzen. Die chemische Industrie sollte schnellstmöglich die Fakten liefern, die gebraucht werden, um ökologisch sinnvolle Stoffstromentscheidungen zu ermöglichen.

CT: Wenn chemisches Recycling schon mit Verbrennungsprozessen konkurriert, dann wird es auch einen Obulus, eine Gate-fee, ein Annahmeentgelt für seinen Input benötigen, oder wollen die Betreiber den Input kaufen?

Scriba: Heute werden nur wenige Kunststoffabfallströme ohne Zuzahlung an die Recyclingwirtschaft abgegeben oder sogar verkauft. Das sind in der Regel nur sehr sortenreine Fraktionen aus Industrie und Handel, die standardisierte PET-Getränkeflaschenfraktion oder die PP- und PE-HD-Hartkunststoffe aus den Dualen Systemen. Die weit überwiegenden Mengen werden gegen Gate-Fees an Recycler geliefert. Davon wird sich das chemische Recycling nicht unterscheiden können, weil es ja ohnehin schon deutlich teurer und ineffizienter ist als das mechanische Recycling, und den Deckungsbeitrag aus der Zuzahlung braucht. Dafür muss man Verständnis haben.

Was ist zu tun?

CT: Was schlagen Sie zur Lösung vor?

Scriba: Nach derzeitigem Stand sind chemisches Recycling und die Rezyklatsgehaltsquoten gesetzt. Unklar ist, ob 2030/2035 ausreichend chemische Kapazitäten am Netz sein werden, die die erforderlichen Rezyklatmengen liefern können, um die Quotenvorgaben zu erfüllen. Damit ist insbesondere die Existenz von Lebensmittelverpackungsherstellern gefährdet, die keine Ausweichmöglichkeiten in andere Produktsegmente haben, gar keine chemisch erzeugten Rezyklate finden oder die hohen Preise dafür nicht zahlen können. Recycler, deren Rohstoffe in Großanlagen umgelenkt zu werden drohen, sind ebenso gefährdet wie potentielle Investoren in mechanisches Recycling abgeschreckt werden.

Es muss deswegen

  • die Subsidiarität des chemischen Recyclings im Gesetz festgeschrieben werden, um weiteren ökologischen und technischen Fortschritt beim mechanischen Recycling zu ermöglichen und den Druck auf mehr DfR aufrecht zu erhalten, und
  • eine Verpflichtung der chemischen Industrie formuliert werden, wonach sie die Effizienz des chemischen Recyclings innerhalb eines bestimmten Zeitraums durch technische Maßnahmen an das mechanische Recycling angleicht. In dem Moment, in dem das erreicht ist, kann die Subsidiaritätsklausel wieder entfallen.
  • ein greenwashing-sicherer Credit-Handel für mechanisch erzeugte Rezyklate eingerichtet werden, wie er auch bereits im aktuellen Parlaments-Vorschlag für Anpassungen des Kommissionsentwurfs als Pflicht der Kommission enthalten ist. Damit können Kunststoffverarbeiter, die aus oben genannten Gründen keine Rezyklate einsetzen können, trotzdem einen sinnvollen Beitrag zur Kreislaufwirtschaft leisten.
  • mechanisches Recycling durch Belieferungsgarantien abgesichert werden: Wer baut bekommt seine benötigten Mengen, sofern sie nicht an andere werkstoffliche Verwerter vergeben sind und er sie im Vergleich mit diesen zu wettbewerbsfähigen Konditionen abnimmt. Auch diese Klausel kann entfallen, wenn der Angleich unter (2) erfolgt ist.

Bild ganz oben: Dr. Michael Scriba ordnet das Verhältnis zwischen mechanischem und chemischem Recycling ein und weist auf Schwachstellen in der Argumentation für das chemische Recycling hin. Foto: Privat

Von fil