Der Bundesgerichtshof (BGH) hat am 26. Juni 2023 drei wegweisende Urteile zu Abschalteinrichtungen in Diesel-Fahrzeugen gefällt und dabei auch die europäische Rechtsprechung berücksichtigt. Letztere hatte bei vielen Betroffenen, die zuvor leer ausgegangen waren, Hoffnung auf Schadenersatz geweckt. Der BGH hat die Ansprüche zunächst gedeckelt. Wie diese Urteile zu bewerten sind, erklärt Juristin Prof. Dr. Renate Schaub von der Ruhr-Universität Bochum. Sie hat die Diesel-Prozesse von Beginn an verfolgt und die Urteile kommentiert. Am 27. Juli 2023 ist ihre Anmerkung zu den BGH-Urteilen vom 26. Juni 2023 in der Neuen Juristischen Wochenschrift erschienen. Ihr Fazit: „In dieser Angelegenheit ist kein Ende in Sicht. Den Gerichten droht eine neue Klagewelle, die schwer zu bewältigen sein dürfte“, so Schaub. Sie rechnet damit, dass auch die neueste Rechtsprechung des BGH angegriffen wird.

Im September 2015 war erstmals bekannt geworden, dass Autohersteller die Software ihrer Fahrzeuge so manipuliert hatten, dass die Abgasreinigung zwar auf dem Prüfstand funktionierte, im normalen Betrieb jedoch nicht. Einige dieser Abschalteinrichtungen wurden in der Folge für unzulässig erklärt. Seit Jahren beschäftigen die Fälle die Gerichte, in Deutschland sind in den verschiedenen Instanzen wohl noch Zehntausende Fälle anhängig. Und es könnten noch viel mehr werden.

„In Deutschland haben Betroffene bislang Schadenersatz erhalten, wenn der Einbau einer Abschalteinrichtung ihres Fahrzeugs eine sogenannte vorsätzliche sittenwidrige Schädigung darstellte“, sagt Renate Schaub. „Mittlerweile ist das Thema aber an der Schnittstelle von nationalem und europäischen Recht sehr viel komplizierter geworden.“ Denn der Europäische Gerichtshof (EuGH) befand bereits im Sommer 2022 auch einige Abschalteinrichtungen für unzulässig, die in Deutschland bislang als legal galten. Im März 2023 entschied er, dass dafür auch unterhalb der Schwelle der vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung Schadensersatz zu gewähren sei.

„Die deutsche Rechtsprechung fußte darauf, dass die europäischen Abgasnormen vorrangig dem Schutz der Umwelt dienten, aber nicht darauf abzielten, den Erwerberinnen und Erwerbern von Fahrzeugen Ansprüche gegenüber den Herstellern einzuräumen“, erklärt Schaub. „Der EuGH nimmt nun die Erwerber stärker in den Blick und sagt, dass auch ein Handeln der Hersteller, das keine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung darstellt, für eine Schadenersatzforderung ausreichend sein kann.“

Überlastung der Gerichte befürchtet

Nun steht der BGH vor einem Dilemma. Die Urteile des EuGH müssen umgesetzt werden, aber sie passen nicht richtig in das deutsche Rechtssystem – und sie könnten eine massive Klagewelle auslösen. „Die Gerichte sind jetzt schon sehr stark belastet“, weiß Renate Schaub. „Die Musterfeststellungsklage hat weniger Fälle gebündelt als erwartet, es gibt viele Einzelfälle. Nach der neuen Rechtslage mag man sich gar nicht vorstellen, was auf die Gerichte zukommen könnte.“ Im Juni 2023 urteilte der BGH in drei Einzelfällen, in denen Erwerber von Dieselfahrzeugen auf Schadenersatz geklagt hatten, obwohl eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung nicht nachgewiesen war. Schadenersatz kann dabei zwei Dinge bedeuten: Entweder erhalten Erwerberinnen und Erwerber einen Teil des Kaufpreises zurückerstattet oder sie können ihr Auto gegen Erstattung des Gesamtpreises (aber unter Abzug eines Entgelts für die Nutzung des Fahrzeugs in der Zwischenzeit) zurückgeben. Der BGH begrenzte den Anspruch in seinen Urteilen für die Fälle, in denen keine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung gegeben war, auf eine Kostenerstattung von 5 bis 15 Prozent des Kaufpreises.

BGH sucht Kompromiss zwischen EU-Recht und Handhabbarkeit

„Wie der BGH auf diese Zahlen gekommen ist, ist aber unklar“, so Schaub. „Daher bleibt diese Rechtsprechung angreifbar, und ich gehe davon aus, dass Anwältinnen und Anwälte das nutzen werden.“ Die Bochumer Juristin sieht in den Urteilen einen Kompromiss: „Der BGH versucht, die europäischen Vorgaben umzusetzen und gleichzeitig eine Überlastung der Gerichte zu verhindern, indem er einen Rahmen für Schadenersatzansprüche vorgibt. So hat er versucht, das Beste aus der Situation zu machen, damit das Ganze handhabbar bleibt.“ Auch aus weiteren Gründen drohen zusätzliche Klagen in Dieselfällen. Die Strafgerichte sind derzeit mit den Klagen gegen die Verantwortlichen der Autokonzerne befasst. Sollte es sich bei den Praktiken der Hersteller um Betrug gehandelt haben (wie etwa kürzlich vom Landgericht München I – noch nicht rechtskräftig – entschieden), könnten daraus weitere, leichter durchsetzbare und eventuell umfangreichere Schadenersatzansprüche für Betroffene erwachsen. Hinzu kommt, dass eigentlich verjährte Fälle jetzt wieder aufgerollt werden könnten.

Verbandsklagerecht soll Einzelfälle reduzieren

Abgemildert werden könnte die Belastung der Gerichte durch das neue Verbandsklagerecht, das europäisch vorgeschrieben, in Deutschland aber noch nicht umgesetzt ist. Es soll Verbänden, etwa Verbraucherschutzverbänden, ermöglichen, eine Klage einzureichen, an die sich Einzelpersonen relativ einfach anschließen können. „Ich bin aber noch skeptisch, ob das viel bringen wird“, sagt Renate Schaub. „Es sind so viele unterschiedliche Autotypen und Motoren betroffen, dass es vermutlich auch weiterhin viele unterschiedliche Klagen geben wird.“

Bild oben: Juristin Renate Schaub kommentiert seit 2018 Urteile zu Abschalteinrichtungen in Diesel-Fahrzeugen. Foto: RUB, Marquard

Von fil