Die Klimakrise ist nicht nur im deutschsprachigen Raum ein großes Thema – weltweit arbeiten Forschung, Industrie und Gesellschaft für mehr Nachhaltigkeit. Dabei geht es darum, enkelfähig zu handeln, also so, dass auch noch die kommenden Generationen genauso gut leben können, wie es heute der Fall ist. Deshalb findet sich das Thema gerade in vielen Lebensbereichen: egal ob in Politik, Produktion oder Handel. Der Fokus liegt dabei nicht nur auf Ressourcen, die für die Produktion verwendet werden. Es geht, wie in den 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung der UN beschrieben, auch weltumspannende Lieferketten und die Digitalisierung von Prozessen. Denn Nachhaltigkeit bedeutet, Gewinne umwelt- und sozialverträglich zu erwirtschaften und kann Klimaschutz und die Gesellschaft fördern. Im Zuge dessen ist Nachhaltigkeit auch ein wichtiger Bestandteil der Gesundheit: physische und psychische Belastungen werden gesenkt.

Viele Branchen sind bereits dabei, Produkte und Vorgänge auf Klimafreundlichkeit und Nachhaltigkeit umzustellen, aber wie weit ist die Medizintechnik in diesem Thema? Schließlich können Veränderungen bei der Materialwahl genau hier unmittelbar Auswirkungen auf die Gesundheit der Patienten haben. Ist Recycling in der Medizintechnik überhaupt möglich? Wiederverwendbare Werkstoffe dort einsetzen, wo Einmalmedizinprodukte für Patientensicherheit und Keimfreiheit sorgen, somit also kaum wegzudenken sind. Sind eventuell Kreislaufmodelle oder biologische Materialalternativen als nachhaltige Methoden ein denkbarer Ansatz? ­­„In der Medizintechnik hat die Funktionalität hinsichtlich der Anwendung den absoluten Vorrang. Dennoch gibt es viele Bereiche, wie zum Beispiel „Single-Use“-Produkte, bei denen die Nachhaltigkeit immer mehr an Bedeutung gewinnt. Hier kommen insbesondere Recyclingtechniken für die medizintechnisch zugelassenen Materialien in Betracht. Aufgrund der regulatorischen Anforderungen ist meist jedoch eine Wiederverwendung in gleichen Produkten nicht möglich“, erklärt Udo Eckloff, Fachreferent INNONET-Kunststoff.

Es wird deutlich: Innovative Ideen müssen her, um die Nachhaltigkeit in der Medizintechnik zu fördern. Neuartige Entwicklungen, wie Bioplastik aus Maisstärke oder anderen nachwachsenden Rohstoffen, könnten die Müllproduktion in der Medizintechnik signifikant nachhaltiger und die Medizintechnik grüner gestalten. „Nachhaltigkeit ist ein Thema, das die ganze Wertschöpfungskette betrifft und immer wichtiger wird. Deshalb ist es uns ein Anliegen, mit der MedtecLIVE with T4M eine Plattform zu bieten, in der Wege und Lösungen für Nachhaltigkeit in der Medizintechnik präsentiert und diskutiert werden können“, weist Christopher Boss, Leiter der MedtecLIVE with T4M und Executive Director Exhibitions der NürnbergMesse GmbH, auf die hohe Bedeutung des Themas hin.

Die Potenziale, die in der Medizintechnik stecken, sind groß. Schließlich ist der Einsatz von klimaunfreundlichen Materialien und aufwändigen Herstellungsprozessen hier Alltag. Denn „besonders in der Medizintechnik ist das ein schwieriges Thema und erst seit kurzem auf dem Schirm. Für viele Hersteller scheint Nachhaltigkeit auch noch gar nicht relevant zu sein“, erläutert Sven Dasbach, Business Developement Manager bei Sanner GmbH. Einige Unternehmen wollen und versuchen das Thema aktiv anzugehen und entwickeln und setzen neue Ideen um. Andere sehen wiederum die Problematik und die Handlungsbedeutung in der Branche als noch nicht relevant an. Dazu kommt erneut, dass die Anforderungen an Medizintechnik-Produkte sehr hoch sind und die Integration von Nachhaltigkeit in den Arbeitsalltag und die Produktion erschweren. Das sieht auch Eckloff: „Hinsichtlich der Wiederverwendung von Spezialmaterialien wird immer wieder versucht, sortenreine, überschüssige Produktionsanteile wieder in den Prozess einzubringen, um dadurch eine nachhaltige Wirkung zu erzielen. Ansätze hinsichtlich der in der Medizintechnik geltenden Zertifizierungs- und Zulassungs-Regulatorien müssen insbesondere bei den benannten Stellen und der Gesetzgebung initiiert und unterstützt werden. Voraussetzung dafür sind eingehende Untersuchungen, ob und wenn ja wo eine Wiederverwendung möglich ist.“

Der aktuelle Nachhaltigkeits-Stand in der Medizintechnik Branche

Unter Medizintechnik fallen viele Produkte und Entwicklungen. Es ist ein großes Feld, das viele Geräte, Prozesse und Technologien umfasst, die im medizinischen Alltag fest verankert sind. Das Produktspektrum ist breit, fängt bei Einmalhandschuhen und Schläuchen an und reicht bis hin zu großen CT-Geräten. Vieles davon mit und aus schwer abbaubarem Plastik. Katia Pacella, Projektbeauftragte für das zirkuläre Gesundheitswesen von Healtcare Without Harm (HCWH) zeigt auf, dass qualitativ hochwertige Versorgung auf ökologischer, sozialer und nachhaltiger Art und Weise nicht nur für Klima und Umwelt wichtig ist: „Die Gesundheit der Patienten wird direkt sichergestellt und die Gesundheit der Gemeinschaft durch einen gesünderen Planeten unterstützt.“ Klimafreundliche, ökologisch abbaubare und gesundheitsfördernde Materialien zu verwenden ist nur schwer umsetzbar durch die lebenswichtigen Anforderungen, die Sicherheit und Keimfreiheit für die Menschen zu garantieren. Der Einsatz von Kunststoffprodukten ist bei nachhaltigem Handeln in der Medizintechnik eine besondere Herausforderung: „Nachhaltigkeit ist ein wichtiges Thema, das in den letzten Jahren mehr und mehr in den Fokus rückte, auch in der Polymerforschung. Nachhaltigkeit kann auf verschiedenen Wegen erreicht werden: durch Energieeinsparung bei der Produktion, durch Prozessoptimierung, bei Verarbeitung und Transport oder auch durch die Wahl der eingesetzten Materialien. Je nach Entwicklungsaufwand kann das allerdings erhöhte Kosten bedeuten“, bewertet Dr. Christoph Herfurth, Wissenschaftler am Fraunhofer-Institut für Angewandte Polymerforschung IAP, die aktuelle Situation. „Nachhaltigkeit fängt bei den Rohstoffen, deren Herkunft und Herstellung, geht weiter mit den Emissionen und dem Produktdesign, wo kann man Material einsparen, muss es ein Einmalprodukt sein? Aber auch die Verwertung spielt eine Rolle genauso wie die Supply Chain, kann man lange Lieferketten vermeiden?“, erklärt Dasbach. Unter Nachhaltigkeit fällt dabei auch die Sicherung und Optimierung des Gesundheitswesens: „Es geht dabei um die öffentliche Gesundheit, den Schutz der natürlichen Ressourcen, die Festlegung sicherer Umweltgrenzen und die Kreislaufwirtschaft bei der Herstellung von Materialien. Die menschliche Gesundheit kann nur geschützt werden, wenn auch die Gesundheit des Planeten geschützt wird.  Die Medizintechnik ist dafür unerlässlich“, fasst Pacella zusammen.

Für bereits zugelassene Produkte hat eine nachhaltigere Neugestaltung wenig Bedeutung. Denn Änderungen am Produkt haben Re-Zertifizierung als Folge, die hohe Kosten und viel Zeit in Anspruch nimmt. Ein Gewinn für den Hersteller ist dabei nicht gesichert. „Geht es um große medizintechnische Geräte wie zum Beispiel ein CT, ist es aufgrund der Stückzahl einfacher, Effizienz und Nachhaltigkeit zu betrachten. Im Bereich der Einmalartikel sehen wir im Moment noch keine große Nachfrage, denn der Druck vom Endverbraucher fehlt“, beschreibt Dasbach und ergänzt, dass sich das Mindset der Endverbraucher ändern müsse, damit sich der Markt anpasse. Solange der wirtschaftliche Aspekt fehle, hätten Hersteller keinen Grund, etwas zu ändern. Im Maschinenbau ist das bereits häufiger so: Axel Bartmann, Abteilungsleiter Marketing und Unternehmenskommunikation der Manz AG, die auch die Medizintechnikbranche bedient und auf der MedtecLIVE 2022 ausstellt, sieht, wie stark sich der Markt verändert hat: „Vieles was Nachhaltigkeit betrifft entsteht aus Eigenverantwortung der Unternehmen. Dennoch gibt auch der Markt viel vor, wenn die Kunden auf diese Eigenschaften Wert legen.“ Viele große Unternehmen versuchen daher bereits, Nachhaltigkeit in ihre Unternehmenswerte aufzunehmen und interne Strukturen effizienter und klimaneutraler zu gestalten, doch das Thema steckt noch in den Kinderschuhen und Investitionen, bestehende Produkte zu verändern, sind zu groß und die Attraktivität auf den ersten Blick zu gering.

Folgen von Nachhaltigkeit für die Medizintechnik und für den Markt

Es muss sich etwas tun, wenn es um Nachhaltigkeit geht. Andere Branchen sind in diesem Thema bereits einige Schritte voraus. Denn welche Folgen es mit sich zieht, wenn sich nichts ändert, sind bekannt: Klimaerwärmung, Mikro-Plastik überall und gesundheitliche Folgen für die Menschen. Eine Umstrukturierung des Marktes und mehr Fokus auf nachhaltigere Produkte haben aber auch Folgen: Für Hersteller und Zulieferer, aber auch für die Konsumenten. „Durch das langsame Aufkommen des Themas in der Medizintechnik kommt es bereits jetzt zu Engpässen bei den biobasierten Kunststoffen, da es da einfach noch zu wenig Anbieter gibt“, berichtet Dasbach. Diese Materialien könnten teilweise, je nach Anforderungen, als Alternative eingesetzt werden, erklärt Herfurth: „Biobasierte Kunststoffe können viel leisten und sind auch bereits im Einsatz. Polymilchsäure zum Beispiel für Verpackungen.“

Innovationen und Neuentwicklungen benötigen Zeit. Die Forschung, Überprüfung und die Überarbeitung von Produkten sorgen auch für jede Menge Kosten für den Hersteller. Klar, denn Nischenmaterialien und Personal, das sich mit einem effizienteren Produktdesign beschäftigt, sowie die bei Veränderung anstehende Re-Zertifizierung beanspruchen viele Ressourcen. Aber auch die Zertifizierung von Nachhaltigkeit bringt einen großen Aufwand mit sich: „Ob Nachhaltigkeitsberichte oder die Messung der Maßnahmen für ein nachhaltigeres Unternehmen, all das kostet Zeit und Geld. Aber es lohnt sich, weil uns das wichtig ist“, fasst Bartmann von der Manz AG zusammen. Das Unternehmen mit Nachhaltigkeit in der Firmen-DNA ist bereits klimaneutral und stets darauf beharrt, noch effizienter und ressourcenschonender zu werden.

Das wichtigste Argument jedoch ist Schutz und Risikofreiheit: „Sicherheit kann durch biobasierte Kunststoffe gegeben werden, das ist aber nicht bei allen so“, erläutert Dasbach. Forschung ist diesbezüglich ein großer Punkt, in den weiter investiert werden muss.

Nachhaltigkeit in der Medizintechnik – Wie soll das gehen?

Die Frage, ob und wie Nachhaltigkeit in dieser Branche umzusetzen ist, stellt sich vielen Menschen. Ein Weg orientiert sich am Vorbild der Natur, denn Kreislaufmodelle sind ein wichtiger Ansatz für Nachhaltigkeit. Nur so viel nehmen, wie auch wieder zurückgegeben werden kann. Verwendete Rohstoffe chemisch zerlegen, anschließend recyceln und der Herstellung wieder beizufügen. Das ist ein Weg, Materialien einzusparen und weniger Abfall zu produzieren. Diesen Ansatz verfolgen bereits einige Unternehmen, die Anlagen bauen, um spezielle Kunststoffe zu zerlegen und direkt wieder in die Herstellung einfließen zu lassen. Auch Pacella sieht Kreislaufmodelle als wichtigen Schritt in Richtung nachhaltiges Wirtschaften: „Im medizinischen Sektor ist es dringend notwendig, von der linearen Produktion wegzukommen. Ungiftige und wiederverwendbare Lösungen sind machbar und können den chemischen Fußabdruck und die Abfallmenge verringern und gleichzeitig bessere Lösungen für Patienten und den Planeten bieten.“ Ein weiterer wichtiger Punkt für einen geringeren ökologischen Fußabdruck ist das Optimieren von Herstellungsprozessen. Dem stimmt auch Bartmann zu: „Da spielt auch die Digitalisierung eine große Rolle, vor allem in der Produktion und Warenbeschaffung. Da gibt es noch große Hebel und viel Luft nach oben.“

Ein anderer Weg betrachtet die verwendeten Rohstoffe. Denn gerade in der Medizintechnik werden an vielen Stellen Kunststoffe eingesetzt. Beispielsweise Polyurethane als Schläuche für intravenöse Katheter. Doch für die Herstellung von Polyurethanen werden üblicherweise unter anderem Isocyanate verwendet, die toxisch und sensibilisierend sind. Sie können Asthma und Allergien auslösen. „Wir haben am Fraunhofer IAP gemeinsam mit den Fraunhofer-Instituten ICT, IFAM und UMSICHT eine neue Synthese von Polyurethanen entwickelt, mit der wir auf die toxischen Isocyanate verzichten können. Das macht die Produktionsprozesse sicherer. Auch ist das so produzierte Polyurethan als biokompatibel zertifizierbar“, fasst Herfurth zusammen, der das Projekt koordiniert. Damit werden weniger belastende Chemikalien für die Produktion dieser häufig eingesetzten Kunststoffe benötigt und auch die Weiterverarbeitung wird noch sicherer. Bei der Herstellung des Kunststoffs wird außerdem CO2 statt Erdöl als Kohlenstoffquelle genutzt. Doppelt nachhaltig also.

Die aktuelle Umsetzung von Nachhaltigkeit funktioniert häufig vor allem über einen globalen Ansatz. Hierbei werden im Unternehmen an vielen Stellen jeweils ein wenig Ressourcen eingespart. Das summiert sich dann und am Ende kann Nachhaltigkeit ganz einfach sein. „Das betrifft dann nicht das Produkt selbst, sondern mehr die Herstellung und die gesamten Prozesse. Die Produkte sind nicht die einzige Schraube, an der man drehen kann. Sanner produziert zum Beispiel den größten Teil der verbrauchten Energie selbst und konnte die CO2 Emissionen am Standort Bensheim somit signifikant reduzieren“, beschreibt Dasbach. Generell ist es jedoch so, dass Prozesse immer dann am günstigsten sind, wenn sie so bleiben, wie sie sind. Aus diesem Grund verändern Unternehmen Vorgänge auch nicht gerne. Herfurth bringt auch an: „Ein besonders vielversprechender Ansatz, um die Nachhaltigkeit von Kunststoffen zu erhöhen, sind Wertstoffkreisläufe. Dabei werden Kunststoffprodukte chemisch in ihre Ausgangsstoffe zerlegt. Diese können wiederum als recycelte Rohstoffe zur Herstellung neuer Materialien eingesetzt werden. Somit werden Kunststoffabfälle zu Wertstoffen. Mit diesem Ziel erforscht das Fraunhofer-Team Wege, Polyurethanabfälle zu recyceln. Die gewonnenen Rohstoffe werden unter stofflicher Nutzung von CO2 zu neuen Ausgangsstoffen für isocyanatfreie Polyurethane umgesetzt.“ Mehr Fokus, mehr Austausch, neue Ideen sind das, was es braucht. „Generell wird diesem wichtigen Thema aktuell in der Medizintechnik aus meiner Sicht noch zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Das wollen wir ändern und bei der MedtecLIVE with T4M mit Ausstellern und Besuchern diskutieren. Hierzu wird es im Programm eine eigene Session und einen speziellen Rundgang zu diesem Thema geben“, fasst Boss zusammen.

Bild oben: Zur MedtecLIVE kommt auch das Thema Nachhaltigkeit in der Medizin auf den Tisch. Foto: Pixabay/Sammy-Sander

Von fil