Kaum ist die größte Pandemie der Neuzeit vorbei, erlebt Europa eine neue Krise. Der Konflikt in der Ukraine stellt die Abfall- und Recyclingindustrie in mehreren Bereichen vor Herausforderungen, erklärt Ralf Schöpwinkel, COO bei Geminor. Die Folgen von Putins verhängnisvollem Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar beginnen sich auf dem europäischen Kontinent bemerkbar zu machen. In erster Linie sind wir Zeugen des schrecklichen Leids des ukrainischen Volkes, aber die russische Invasion bereitet auch wirtschaftliches und logistisches Kopfzerbrechen und hat schwerwiegende Nebenwirkungen, deren volles Ausmaß wir noch nicht erkennen.

Wie in vielen anderen Branchen auch, führt der Krieg in der Ukraine zu einem Ungleichgewicht für viele Abfall- und Recyclingunternehmen in Europa. Zugegeben, dieses Ungleichgewicht hat die Branche bereits während der COVID zu spüren bekommen, aber die Herausforderungen, mit denen wir im letzten Jahr konfrontiert waren, haben sich nun in mehreren Bereichen verstärkt und tragen zu einer weiteren Verunsicherung auf den Abfallmärkten in Europa bei.

Vor allem die folgenden Faktoren erschüttern die Abfall- und Recyclingindustrie in Zeiten des Krieges.

1. Verknappung von Abfall als Ausgangsmaterial

Geminor HUB (Fotograf Johny Kristensen/Quelle Geminor)

Die Abfallwirtschaft ist eine der ersten Branchen, die Signale für einen bedeutenden wirtschaftlichen Wandel in der Gesellschaft erhält. Der Verbrauch der Haushalte und das Produktionsniveau des Unternehmenssektors wirken sich direkt auf die Gesamtabfallmenge aus. Diese Mengen werden immer schwanken, aber der deutliche Rückgang, den wir derzeit erleben, führt zu einem Mangel an Rohstoffen für die nachhaltige stoffliche und energetische Verwertung. Der Krieg in der Ukraine sorgt für weitere Unsicherheit, indem er die Wirtschaft abkühlt und den Verbrauch in Europa verringert.

Ein Beispiel für die derzeitige Rohstoffknappheit ist die Versorgung mit Holz. Russland ist seit langem ein bedeutender Lieferant von Holz und Biohackschnitzeln für die Spanplattenindustrie, die Papierindustrie und die WtE-Anlagen, die Hackschnitzel als Brennstoff verwenden. Mit der Verhängung neuer Sanktionen wurden diese Exporte mehr oder weniger über Nacht gestoppt. Auf dem europäischen Abfallmarkt herrschte schon vor Kriegsbeginn ein Mangel an Altholz, was zu höheren Preisen führte. Dies ist auch eine Herausforderung für die WtE-Anlagen, die den Mangel an Haushalts- und Gewerbeabfällen durch die Verbrennung von Holz kompensieren.

Die Verknappung von Biomasse ist ein Phänomen, mit dem verschiedene Branchen konfrontiert werden und das für energetische Verwertungsanlagen mit strengen Nachhaltigkeitsanforderungen eine Herausforderung darstellt.

2. Erhöhte Transportkosten

Altholz von Geminor (Foto: Geminor)

Als ob es nicht schon genug Herausforderungen für die Transportindustrie in Europa gäbe, beeinträchtigt der Krieg auch die Transportkapazität auf dem Kontinent. Darunter leidet die Abfallwirtschaft, wie andere auch. Ein akuter Mangel an Fahrern verringert die Transportkapazität, und wenn viele ukrainische Fahrer jetzt nach Hause zurückkehren, um ihr Land zu schützen, werden diese Herausforderungen noch größer.

In kurzer Zeit hat sich der Preis für Schiffstreibstoff verdoppelt, und der Dieselpreis für den Straßentransport war noch nie so hoch. Diese zusätzlichen Kosten werden auf die Transportpreise aufgeschlagen, was die preisempfindliche Abfallwirtschaft sehr stark trifft. Gleichzeitig scheiden russische Massengutfrachter aus der Lieferkette aus, was auch die Kapazitäten im Seeverkehr einschränkt. Der Schienenverkehr kann den Mangel an anderen Transportdienstleistungen derzeit nicht ausgleichen.

3. Erhöhte Energiepreise

Die Preise für Strom und fossile Energie sind eng miteinander verknüpft, und obwohl immer noch Gas aus Russland nach Europa fließt, hat der Krieg die Betriebskosten für viele Akteure der Branche erheblich erhöht. Die derzeitigen, äußerst ungewöhnlichen Strompreise zwingen eine Reihe von Recyclingunternehmen zu einem vorübergehenden Produktionsstopp. Dies ist der Fall bei mehreren Kartonagen- und Papierrecyclingbetrieben (RCP) in Europa.

4. Ein unberechenbarer Markt

Auch das Emissionshandelssystem (ETS) der EU ist vom Krieg in der Ukraine betroffen. Am 3. Februar wurden die Quoten zu 94 € pro Tonne gehandelt. Nach dem Einmarsch in die Ukraine am 7. März wurden die Quoten zu einem Preis von nur 58 € pro Tonne gehandelt, liegen aber derzeit wieder bei 80 €.

Der Abfallmarkt, der auf dem Spothandel basiert, wird unberechenbar, da sich die Preise schnell ändern. Für Anlagen zur energetischen Verwertung, die an langfristige und vorhersehbare Marktbedingungen gewöhnt sind, stellen die schwankenden Preise und Einspeisevergütungen eine Herausforderung dar, die zu dem Mangel an Sekundärbrennstoffen hinzukommt.

Der grenzüberschreitende Transport von Abfällen, der durch die grenzüberschreitende Verbringung von Abfällen (TFS) geregelt ist, erfordert Anträge, deren Genehmigung normalerweise mehrere Monate dauern kann, was die Unsicherheit vieler Akteure in diesem Frühjahr noch verstärkt.

Wenn uns der Krieg in der Ukraine etwas lehren kann, dann, dass die gesamte Wertschöpfungskette schnell anfällig wird, wenn Marktmechanismen in Kombination mit Emissionsquoten und anderen Vorschriften unvorhergesehene Änderungen erfahren. Eine breite internationale Zusammenarbeit und gemeinsame Vorschriften, die den Zugang zu Rohstoffen in ganz Europa erleichtern, würden die Risiken verringern und in künftigen Krisensituationen einen stabileren Abfallmarkt ermöglichen.

Titelfoto: Ralf Schöpwinkel, COO Geminor (Quelle Geminor)

Von AG